Im Netz finden sich immer wieder Kuriositäten. Wie zum Beispiel der Fall Julia Gothe, die 14 Jahre lang in dem Format »Jules Blog – Aus dem Leben einer Stinkesocke« über ihr Leben schrieb. Nun, man muss wohl das Wörtchen »vermeintlich« hinzufügen, denn dieser Blog war ein Fake-Blog, der über diesen enorm langen Zeitraum betrieben wurde. Nun gibt es in der ZDF-Mediathek die Dokumentation »WTF is Jule?! – Zerstörtes Vertrauen«, die vom Schauspieler Maximilian Mundt moderiert wird.
Da der Blog recht populär war, erfreute er sich einer erstaunlichen Beliebtheit. Mir selbst ist der Blog ebenfalls aufgefallen und hatte mich allerdings eher verwundert zurückgelassen. Ich konnte damals nicht verstehen, weshalb der Blog sogar Preise gewann, da er zum einen optisch kaum ansprechend gestaltet war, was selbst in den Anfängen der Blogs recht ungewöhnlich war und zum anderen die Texte ausschweifend und sehr selbstverliebt geschrieben wurden.
Irgendwann habe ich den Blog aus den Augen verloren und ich meine mich dunkel daran zu erinnern, dass der Macher zwischenzeitlich eine längere Pause eingelegt hatte. Was ihn wohl dazu motiviert hat, den Betrug so lange aufrecht zu halten? Darauf gibt es auch in der ZDF-Doku keine Antwort.
Leider lässt das ZDF das Einbetten von Videos nicht mehr zu. Deshalb an dieser Stelle lediglich der Link zur ZDF Mediathek. Das Video ist bis zum 17.12.2025 verfügbar.
Dieser Fall zeigt, wie sich die Bloggerwelt gewandelt hat. Es gibt kaum noch Blogs mit einer großen Reichweite, bzw. die Reichweite muss anders definiert werden. Denn oftmals werden die Beiträge nicht von den Followern besucht, sondern von Suchmaschinen gefunden.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass es sehr viele Kommentare zu den Beiträgen auf diesem Blog gab, die die Glaubwürdigkeit der Beiträge in Frage gestellt hatten. Die Geschichten, von denen dort berichtet wurde, waren teils sehr an den Haaren herbeigezogen. Während es viele gab, die das als hanebüchenen Unsinn abgetan haben, gab es sehr viele, die den Geschichten Glauben schenkten. Und es gab eine kleine Gruppe, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, den Blog zu enttarnen und den Macher dahinter zu offenbaren.
Worum ging es auf dem Blog?
Es hatte die fiktive Julia Gothe von ihrem Unfall erzählt, den sie mit 15 Jahren gehabt hatte. Sie landete querschnittsgelähmt im Krankenhaus und später in der Reha, wo sie den Spitznamen »Stinkesocke« erhielt, weil sie kratzbürstig ihren Frust angesichts ihrer neuen Situation an ihrem Umfeld ausgelassen hat. Eine Therapeutin hatte ihr geraten, sich den Frust doch einfach von der Seele zu schreiben, was in ihrem Blog mündete.
Dort erzählte sie dann von ihren Erlebnissen, die sie als Rollstuhlfahrerin erlebte, weshalb viele andere Betroffene ihren Texten folgten, da sie in der vermeintlichen Bloggerin eine kämpferische Betroffene sahen, die ihnen Mut machte.
Der Blog wurde 2012 als bester deutscher Blog ausgezeichnet, weshalb er sehr prominent wurde und viele zehntausend Follower anzog.
Mehr oder weniger aus dem Nichts wurde der Blog am 02. April 2023 kommentarlos deaktiviert und ist seither nicht mehr zu erreichen.
Bis ins kleinste Detail aufgedröselt wurde der Fall auf der Website “Imperialcrimes”.
Hilfreich?!?
Mehrere bekanntere Organisationen berichteten von diesem Blog und boten der Bloggerin sogar eine Zusammenarbeit an. Mit der ZDF-Dokumentation stellt sich nun die Frage, welchen Schaden die Betreiber des Blogs angerichtet haben. Die meisten stellen eine negative Bilanz in den Raum. Aber ist dem wirklich so? Auch in der Dokumentation gibt es Stimmen von ehemaligen Followern, die davon berichten, dass sie viel von den Erzählungen mitgenommen haben und sie die Schilderungen als sehr hilfreich empfunden haben.
Dass man in Deutschland nicht einfach so ohne Abitur studieren und auch nicht einfach so eine Pflegetochter aufnehmen kann, haben die Follower ignoriert. Sie haben die Glaubwürdigkeit nie in Frage gestellt. Ganz im Gegenteil haben sie Mut geschöpft und ihren Kampfgeist gestärkt.
Auch wenn manche es als ethisch verwerflich finden, sich als querschnittsgelähmte Frau auszugeben, so hat die fiktive Person Julia Gothe doch vielen behinderten Menschen geholfen und vielleicht sogar dem ein oder anderen nicht behinderten Menschen vor Augen geführt, womit behinderte Menschen in Deutschland zu kämpfen haben. Zumindest auf den ersten Blick. Denn heute liegt die Vermutung nahe, dass ein “alter weißer Mann” hinter dem Blog stand. Bewiesen ist dies allerdings (noch) nicht.
Auf dem Blog wurden durchaus viele glaubwürdige Anekdoten aus ihrem (nicht vorhandenen) Alltag geschildert, wobei sie auf eine Art und Weise geschrieben hatte, die relativ ansprechend war. Mir waren die Texte deutlich zu lang und zu detailliert und immer wieder zu selbstverliebt. Aber die Beiträge haben offensichtlich vielen Menschen aus der Seele gesprochen.
Es fing an dem Punkt an kritisch zu werden, als sich Menschen direkt an die vermeintliche Bloggerin gewandt und sie mehr oder weniger intime Inhalte ausgetauscht haben. Wo auch immer der Macher des Blogs die Informationen herhatte, um glaubwürdige Antworten zu schreiben. Vermutlich gibt es eine hohe Dunkelziffer von Betroffenen, da diese aus Scham lieber schweigen.
Ich finde es gut, dass durch die ZDF-Doku der Täter nicht zum Opfer gemacht wird. Eine Person, die sich 15 Jahre lang als eine querschnittsgelähmte junge Frau ausgibt, braucht dringend Hilfe und keinen Shit-Storm in den sozialen Medien. Natürlich wird diese Person traumatisierte Menschen zurücklassen, die nun ihrerseits Hilfe benötigen. Aber wird deren Leid geschmälert, in dem die Person hinter dem Blog an den Pranger gestellt wird?
Was dieser Fall allen Menschen lehrt, die sich im Internet bewegen, ist eine Sensibilität gegenüber fremden Menschen zu entwickeln und sich durchaus mit einer guten Portion Misstrauen an jemanden zu wenden. Die heutigen KIs sind sicherlich in der Lage, einen derartigen Blog so zu führen, dass kaum jemand etwas merkt. Dies war bei Jule nicht der Fall, dafür gab es den Blog zu lange. Aber die Beispiele aus dem Netz, die zeigen, was mit heutigen KIs alles möglich ist, sind erschreckend und gebieten zunehmend den Inhalten mit Misstrauen zu begegnen.
Es sollte aber nicht so weit exerziert werden, dass nun alle Blogger (egal ob mit oder ohne Behinderung) unter Generalverdacht gestellt werden. Auch wenn viele Blogs mittlerweile verweist sind, so gibt es ebenso viele, die auch heute noch bloggen, ohne dass diese als Fake betrieben werden.
Viele Blogs sind mittlerweile geschlossen worden oder die Macher verlagern ihre Aktivitäten in andere soziale Medien. Hier eine kleine Auswahl an noch aktiven klassischen Blogs:
- https://blog.behindernisse.de/ (MS)
- https://bike-o-matic.blogspot.com/ (Touren im Handbike und Rollstuhl, Ausflugstips sowie Tricks und Kniffe für Handbikefahrer)
- https://www.deinechristine.de/ (MS)
- https://kaiserinnenreich.de/ (Mütter erzählen über ihren Alltag mit behinderten Kindern)
- https://raul.de/blog/ (Der Blog des bekannten Aktivisten Raul Krauthausen)
- https://rollstuhlblog.ch/
- https://wheeliewanderlust.de/ (Rollstuhl-Reiseblog)
- https://wheelymum.com/ (MS)
Schon seit Anbeginn des Internets pflegte Eng einen Blog. Und weil es ihm Spaß macht, seine Erfahrungen zu teilen, sind es immer Mischblogs, so wie dieser hier.
Seitdem seine neuromuskuläre Erkrankung einen deutlich größeren Einfluss auf sein Leben hat, befinden sich neben den Beiträgen zur Fotografie, Aquaristik, Reisen, Verbraucherschutz und Technik auch Beiträge zu Gesundheitsthemen auf diesem Blog.
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