Und dann bewirbt er sich doch! Der Schwerbehinderte

Unabhängig von einer Schwerbehinderung, sind immer wieder Stellenanzeigen zu sehen, die die eierlegende Wollmilchsau suchen. In der Anzeige findet sich unter dem Punkt “Voraussetzungen” ein bunter Strauß an Anforderungen, die kein Mensch der Welt in dieser Spezialisierung innehat. Bei LinkedIn macht sich das dadurch bemerkbar, dass sich dort keiner bewirbt, während auf Stellenanzeigen, die die Anforderungen etwas allgemeiner halten, oftmals eine Anzahl von Bewerbungen in dreistelliger Anzahl aufweisen. Natürlich kann man als Schwerbehinderter sich genau diese Stellenanzeigen herauspicken und sich darauf bewerben, auch wenn viele Anforderungen nicht erfüllt sind.

Hinweis: Dieser Beitrag ist eine Summe aus Erfahrungen unterschiedlicher schwerbehinderter Personen, die Berufe erlernt haben, die mal mehr (Ingenieure, Programmierer) und mal weniger (Kaufleute) gefragt sind. Außerdem fließen Erfahrungen von Personalleitern in diesen Beitrag mit ein. Es dürfte verständlich sein, dass sowohl Personen als auch Firmen anonym bleiben.

In vielen Stellenanzeigen findet sich der Passus “Schwerbehinderte Bewerberinnen und Bewerber werden bei gleicher Eignung besonders berücksichtigt.” Das Wörtchen besonders wird mittlerweile anstelle von bevorzugt verwendet, auch wenn beides nicht der Fall ist. Manchmal hat es den Anschein, als wäre so mancher Arbeitgeber überrascht, wenn sich tatsächlich ein Schwerbehinderter bei ihm bewirbt. 

Aus diversen Gründen findet man den Passus immer seltener. Die Personalleiter behaupten gerne, dass die Integration von Behinderten ja mittlerweile zum guten Ton gehört und man deswegen nicht explizit darauf hinweist.

In Wahrheit poppen alle Vorbehalte gegenüber Schwerbehinderten auf, die einem Personalleiter einfallen können. Der ist doch eh nur krank, bekommt mehr Urlaub im Jahr und hat Anspruch auf eine Reha oder sonstige Maßnahme und stört zudem den reibungslosen Ablauf der Prozesse in der Firma, allein nur deswegen, weil plötzlich ein Behinderten-WC eingebaut werden muss. Außerdem schwebt immer der Begriff der Unkündbarkeit über einem Schwerbehinderten, obwohl dies so nicht stimmt. Es muss zwar bei einer Kündigung das Integrationsamt eingeschaltet werden, aber das prüft nur, ob die Kündigung aufgrund der Schwerbehinderung ausgesprochen wurde. Alle anderen Aspekte (auch die sozialen) spielen keine Rolle.

Bei der Bewerbung auf eine Position gibt es nur einen ersten Platz. Es ist egal, ob man auf Platz zwei oder zehn hinter dem ersten stand. Denn nur der Erstplatzierte erhält den Zuschlag und bei der Bewerbung auf eine andere Stelle, werden die Karten wieder vollkommen neu gemischt. Ein Personalleiter pfiffig, so schaut er sich die Bewerbungen für seinen gesamten Stellenpool an und bietet dem Bewerber ggf. eine alternative Position an. Erschreckend, wie selten dies praktiziert wird.

Vor diesem Gesichtspunkt hat es den Anschein, als sind Arbeitgeber ganz froh, dass sie Schwerbehinderte nicht bevorzugt einstellen, sondern die Bewerbung besonders berücksichtigen. Und zwar im negativen Sinne. Denn Schwerbehinderte haben es in Deutschland noch immer schwer, einen Job zu finden, der ihrer Qualifikation entspricht und auch gleich bezahlt wird. Ja, es werden in Deutschland nicht nur Frauen und Ostdeutsche schlechter bezahlt, sondern auch Schwerbehinderte (ein bisschen Polemik darf sein).

Es ist in der Tat so, dass viele Arbeitsplätze in Deutschland nicht barrierefrei sind. Bürogebäude sind veraltet und haben teils sehr schmale Türen (< 65 cm) und sehr oft noch nicht mal ein WC. Das ist selbstverständlich ein Hinderungsgrund, denn welcher Arbeitgeber möchte schon zuerst bauliche Maßnahmen durchführen, um einen neuen Mitarbeiter anzustellen? Und da hilft es auch wenig, wenn der Mitarbeiter zu den Fachkräften gehört, an denen es einen Mangel gibt. Ein Mangel, der dann plötzlich doch nicht so groß ist.

Die Personen, deren Erfahrungen hier einfließen, sind sowohl bei Xing als auch bei LinkedIn aktiv und erhalten in beiden Netzwerken regelmäßig Anfragen von Headhuntern oder Talent-Scouts (solange sie in begehrten Berufen tätig sind). In beiden Netzwerken gibt es keine Möglichkeit, im Profil anzugeben, dass man auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen ist. Bevor der Bewerbungsprozess überhaupt erst startet, muss dieser Aspekt geklärt werden. Denn was nützt es, wenn es zum ersten Vorstellungsgespräch kommt und der potentielle neue Arbeitgeber fällt aus allen Wolken, weil er sich plötzlich einem Rollstuhlfahrer gegenüber sieht. Und man darf gerne Realist sein und erkennen, dass es sehr viele Jobs gibt, die für Rollstuhlfahrer nicht geeignet sind.

Was passiert, wenn die suchende Person erfährt, dass sich hinter dem angefragten Profil ein Schwerbehinderter verbirgt? Es gibt folgende Möglichkeiten:

  • Derjenige, der den Schwerbehinderten angesprochen hat, meldet sich gar nicht mehr. Eine sehr unhöfliche Variante.
  • Derjenige, der den Schwerbehinderten angesprochen hat, gibt eine kurze Info, dass die Stelle nicht barrierefrei ist.
  • Die Bewerber erhalten eine überschwängliche Mitteilung, dass Barrierefreiheit heutzutage doch überhaupt kein Problem sei und erhalten einige Tage später die Absage, weil der Werbende vom Kunden erfahren hat, dass die Stelle nicht barrierefrei ist.
  • Sehr, sehr selten erhalten Bewerber das Feedback, dass die Stelle barrierefrei ist. Eine nicht repräsentative Schätzung ergibt einen Anteil von 1-5% der angebotenen Positionen, die für einen Schwerbehinderten infrage kommen. Eine Absage gibt es dann dennoch. Der Grund ist wie bei allen anderen Bewerbern (denen abgesagt wird) nicht ersichtlich.
Wer sich direkt auf eine Position bewirbt, erhält für gewöhnlich eine Standard-Absage, auch wenn im Bewerbungsprozess eine Schwerbehinderung erfasst und dem Bewerber mitgeteilt wird, dass sich ein HR-Mitarbeiter vorab nochmals kontaktieren würde, um die Schwerbehinderung besser erfassen zu können (eben weil nicht alle Positionen für Schwerbehinderte geeignet sind). Natürlich meldet sich keiner und die Absage trudelt ohne Gespräch ein. Vor allem bei Großkonzernen ist dieses Verhalten zu beobachten.

Erstaunlicherweise sind es vor allem die Großkonzerne, die sich mit Schwerbehinderten schwertun. Zumindest solange sie ebenso entlohnt werden möchten wie ihre nicht-behinderten Kollegen. Und es ist erstaunlich, wie kreativ die HR-Abteilungen großer Konzerne sein können, um dies zu verschleiern, denn der Betriebsrat und die Schwerbehindertenvertretung müssen ja zumindest auf dem Papier ruhiggestellt werden.

Die Arbeitsstätte ist neben der Mobilität und medizinischen Versorgung ein wichtiger Bestandteil im Leben eines Schwerbehinderten. Es ist beschämend, wie wenig inklusiv Deutschlands Arbeitswelt ist. Vor allem Schwerbehinderte bekommen an allen Ecken und Kanten zu spüren, wo es in Deutschland nicht rund läuft. Der öffentliche Nahverkehr funktioniert nur mittelmäßig (für Schwerbehinderte oftmals gar nicht), die Digitalisierung ist quasi nicht vorhanden (was bei den vielen Anträgen zu spüren ist, die ein Schwerbehinderter stellen muss) und die Gesellschaft richtet sich immer mehr auf einen erfolgreichen Karrieremenschen aus, der bestenfalls auch keine Familie hat.

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